Dr. Franz
Uhle-Wettler
März 2005
Ein Qualitätssprung bei der
Vergangenheitsbewältigung
Die Lehre vom Qualitätssprung
Höchstwahrscheinlich ist ein
Qualitätssprung bei derjenigen Art der Vergangenheitsbewältigung zu vermelden, die
zwar wissenschaftlich fragwürdig, aber weit verbreitet und deshalb wichtig ist.
Zur Erinnerung: Zu den Grundpfeilern des Marxismus gehört die Lehre, daß in
allen Bereichen des Universums, vom Innersten der Atome bis zu den fernsten
Galaxien, allmähliche Änderungen der "Quantität" zu einer plötzlichen
und in menschlichen Gesellschaften revolutionären Änderung der
"Qualität" führen. So bewirkt eine quantitative Änderung, Zuführung
von Wärme, unabänderlich bei null sowie hundert Grad eine sprungweise Änderung
der Qualität: Eis wird zu Wasser und dann zu Dampf.[1]
Das quantitative Wachsen des Bürgertums bewirkte in den absolutistischen
Staaten den Qualitätssprung zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Die
Grenzen der Doktrin sind allerdings offensichtlich: In den
demokratisch-kapitalistischen Gesellschaften soll die quantitative Vermehrung
des verelendenden Proletariats mit naturgesetzlicher Sicherheit zu einem
revolutionären Qualitätssprung, also über die Diktatur des Proletariats zur
sozialistischen und schließlich kommunistischen Gesellschaft führen.[2]
Quantitative Veränderungen der Vergangenheitsbewältigung
Bisher waren dort, wo
Vergangenheitsbewältigung mit übergroßem Eifer und fragwürdigen Methoden
betrieben wurde, nur quantitative Änderungen festzustellen. Noch vor vierzig
oder dreißig Jahren wäre es kaum denkbar gewesen, Soldaten pauschal als Mörder
und die Wehrmacht pauschal, so hohe Politiker, als "marschierendes
Schlachthaus" zu bezeichnen. Doch seitdem haben Einäugigkeit, Verschweigen
der dem gewünschten Urteil entgegenstehenden Tatsachen und Dokumente sowie
manch anderes quantitativ weiter zugenommen, wie die (anfängliche) Begeisterung
über die Wehrmachtausstellungen zeigt. Aber in einem Chorgesang fallen nur die
lautesten Stimmen auf. Wer auffallen will und Beifall begehrt, muß also noch
lauter singen. So wird der Chorgesang immer lauter (eine quantitative Änderung)
und kann in eine neue Qualität umschlagen. Dieser Qualitätssprung scheint nun
zu geschehen. Das läßt sich an den letzten Veröffentlichungen des
Militärgeschichtlichen Forschungsamtes (MGFA) der Bundeswehr aufzeigen.
Das Amt veröffentlicht unter
anderem die Militärgeschichte –
Zeitschrift für historische Bildung; warum die Zeitschrift wichtig ist, sei
später dargelegt. Sogar in einem einzigen der neueren Hefte finden sich gleich
zwei Aufsätze, die die Vermutung nahelegen, der Qualitätssprung der
Vergangenheitsbewältigung sei vollbracht.
Der erste Aufsatz hatte den
"Mythos" Tannenberg und damit eine deutsche "Legende" als
Titel.[3]
Schon das weckt Interesse. Immerhin ist sogar genialen Heerführern die
Einschließung und damit Vernichtung eines feindlichen Heeres nur selten
gelungen: Hannibal bei Cannae, Caesar bei Ilerda, Napoleon bei Ulm und Moltke bei Metz sowie bei Sedan. Hindenburg sowie Ludendorff konnten 1914 bei Tannenberg
die sogar etwas stärkere russische 2. Armee in einer mehrtägigen Schlacht
einschließen – und das, obwohl die nur ein bis anderthalb Tagemärsche entfernte
russische l. Armee praktisch keine deutschen Truppen mehr vor sich hatte und
dauernd einzugreifen drohte. Warum ein solcher Sieg so sehr "Mythos"
und "Legende" sein soll, daß man dies in den Vordergrund stellen muß,
ist schwer erkennbar. Doch das ist hier nicht Thema. Also nur der Hinweis, daß
Niveau und Aussage des Aufsatzes dem Titel entsprechen.
Der erste Qualitätssprung
Gegen Ende des Aufsatzes
wird sichtbar, was man wohl als Qualitätssprung der Vergangenheitsbewältigung
bezeichnen kann. Der Aufsatz berichtete eine Schandtat: bei der Einweihung des
Tannenbergdenkmals am 18.9.1927 wurden "bezeichnenderweise" die
republikanischen und jüdischen Veteranenverbände "ausgeschlossen".[4]
Also: Rassismus, Antisemitismus, Verneinung der legalen sowie demokratisch
legitimierten republikanischen Staatsordnung und Verneinung der verbal
beschworenen Frontkämpfergemeinschaft in einem einzigen Bubenstück! Wahrlich
eine Schandtat.
Zweifel kann allerdings
aufkommen, wenn man beachtet, daß die Einweihung des Denkmals in Gegenwart des
Reichspräsidenten v. Hindenburg, des Reichskanzlers und
zweier Reichsminister stattfand.[5]
Diese sollen gemeinschaftlich die Schandtat zugelassen und gedeckt haben? Zudem
hat ausgerechnet Hindenburg noch
1932, also mit Hitler vor den
Toren, sich für das ihm vom Reichsbund Jüdischer Frontsoldaten übersandte
"Gedenkbuch" mit den Namen der 12.000 jüdischen Gefallenen in
"ehrfurchtsvoller" Erinnerung an die "für das Vaterland"
gefallenen "Kameraden" und mit "kameradschaftlichem" Gruß
bedankt.[6]
Angesichts der Zweifel bat
der Verfasser dieses Aufsatzes am 11. Juli 2004 den Amtschef des MGFA um
Mitteilung, worauf sich der Bericht über die Schandtat stützt. Nach fünf Wochen
dankte der Amtschef am 19.8. für das Interesse an den Veröffentlichungen des
MGFA. Aber der erbetene Hinweis auf die Quelle für jene Schandtat fehlte. Neuer
Brief am 16.10.2004. Antwort am 4.11.: Die Quelle sei dem Amtschef nicht
bekannt, und er könne die Verfasser des Aufsatzes nicht anweisen, die Quelle zu
nennen (warum?). "Mit freundlichen Grüßen." Da bleibt nur die
Annahme, daß es die Quelle nicht gibt. Das würde dann freilich bedeuten, daß
die Schandtat erfunden wurde. Diese Vermutung wird durch die noch heute
verfügbaren Unterlagen gestützt.
Erfindet das MGFA deutsche Schandtaten?
Zur
"Ausschließung" der republikanischen Frontkämpferverbände: Die als
liberal zu wertende Vossische Zeitung
berichtete am 20.9.1927, das der SPD nahestehende Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold
habe die Beteiligung von sich aus "abgelehnt", weil es eine
nationalistische Demonstration erwartete.[7]
Bei dieser Beurteilung dürften parteipolitische Gesichtspunkte eine Rolle
gespielt haben. Dafür ist bezeichnend, daß die SPD-Regierung Preußens sich bei
der Einweihungsfeier trotz Teilnahme des Reichspräsidenten und der
Reichsregierung durch nachgeordnete Organe vertreten ließ. Der Vorwärts – Zentralorgan der
Sozialdemokratischen Partei Deutschlands sprach von einer "ausgeprägt
nationalistischen" Kundgebung,[8]
obwohl die im Mittelpunkt der Veranstaltung stehende Ansprache des
Reichspräsidenten vorher dem Reichskanzler Marx
und dem Außenminister Stresemann
vorgelegt und gebilligt worden war. Jedenfalls von "Ausschließung"
der republikanischen Frontkämpferverbände keine Spur; sie haben nicht
teilnehmen wollen.
Bei der Beurteilung dieser
Haltung kann man auf das Urteil von Arthur
Rosenberg, also eines Historikers und kommunistischen
Reichstagsabgeordneten und mithin eines unverdächtigen Zeugen verweisen. In
seiner zweibändigen Geschichte der Weimarer Republik urteilt er mehrfach, die
Mißachtung eines maßvollen Nationalgefühls durch die Linke habe wesentlich dazu
beigetragen, daß die Republik wenig Anklang fand.[9]
Man wird also die Haltung der politischen Linken nicht automatisch billigen
müssen.
Die
"Ausschließung" der jüdischen Frontkämpferverbände? Der Festausschuß
hatte den ehemaligen Feldrabbiner Dr. Lewin,
einen evangelischen und einen katholischen Geistlichen um eine Ansprache beim
einleitenden Gottesdienst gebeten. Doch nachdem das Programm gedruckt und
veröffentlicht worden war, entstanden Schwierigkeiten. Folglich schrieb nach
einer erfolglosen Besprechung, aber vor der Einweihung der Festausschuß am
13.9.1927 dem Reichsbund jüdischer Frontsoldaten, er halte "eine Ansprache
des Herrn Rabbiners bei Beginn der Weihefeier" nicht mehr für möglich. Der
Grund: weil "der gleiche Anspruch von Vertretern anderer, nicht zur
evangelischen und katholischen Kirche gehörenden Religionsgemeinschaften mit
dem gleichen Recht erhoben wurde. Da eine längere Folge von Festansprachen sich
selbstverständlich verbot, mußten diese auf die Vertreter der beiden Kirchen
beschränkt werden, welche die weit überwiegende Mehrheit der Tannenbergkämpfer
umfaßt. Die Vertreter der übrigen kleineren Religionsgemeinschaften[10]
sind bereitwillig auf den Vorschlag eingegangen, eine kurze Ansprache bei der
Kranzniederlegung zu halten. Auch Herr Rabbiner Lewin hatte sich damit einverstanden erklärt. Wir bedauern,
daß er durch die Berliner Instanzen des deutschen Judentums zur Änderung seines
Standpunktes veranlaßt worden ist (...) Mit der Versicherung der vorzüglichsten
Hochachtung zeichne ich ergebenst – Kahns,
Generalmajor, Vorsitzender."[11]
Bei der Beurteilung dieser
Darstellung des Festausschusses ist zu beachten, daß dieser ebenso Partei war
wie der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten, der dem Festausschuß
"kleinlichen Geist" vorwarf.[12]
Dennoch darf man heutige Gebräuche zur Bewertung heranziehen. Der Verfasser hat
mehrfach auf dem britischen Soldatenfriedhof in Rom am Memorial Day, dem
britischen Volkstrauertag teilgenommen. Gerade in Italien dürften in den
indischen und afrikanischen Truppen der britischen Streitkräfte zahlreiche
Hindus, Moslems, Sikhs, Lamaisten usw. sowie auch Juden gefallen sein, wie auch
die Grabsteine auf dem Friedhof zeigen. Doch stets sprachen – ebenso wie 1927
am Tannenbergdenkmal – nur ein evangelischer und ein katholischer Geistlicher.
Anscheinend hat keiner der zahlreich teilnehmendem Botschafter der ehemaligen
britischen Kolonien sowie Dominien Anstoß daran genommen, daß kein Imam, kein
Rabbi, kein Hindupriester usw. sprachen. Man wird also die Reaktion Dr. Lewins nicht automatisch als berechtigt
anerkennen müssen. Unbestreitbar ist, daß er eingeladen war und sich aus
eigenem Entschluß zurückzog, weil ihm nur bei der Kranzniederlegung Rederecht
und Redezeit eingeräumt wurden.
Der jüdische
Frontsoldatenverband? Der "Landesverband Ost- und Westpreußen" des
Reichsbundes gab eine Presseerklärung heraus,[13]
in der es einleitend heißt, er habe sich "zu seinem großen Bedauern und
schweren Herzens entschließen müssen, der Feier auf dem Schlachtfelde von
Tannenberg fernzubleiben." Im ursprünglichen Festprogramm sei eine
Ansprache des Feldrabbiners Dr. Lewin
beim einleitenden Gottesdienst vorgesehen gewesen, doch dann sei an diesen das
Ansinnen gestellt worden, "an anderer Stelle im späteren Verlauf der Feier
die Ansprache zu halten". Deshalb seien sie, die jüdischen Frontkämpfer,
der Feier "ferngeblieben". Das bestätigt die zitierte Darstellung des
Festausschusses. Also wiederum von "Ausschließung" keine Spur.
Noch ein Qualitätssprung
Doch damit nicht genug der
Fragwürdigkeiten in einem einzigen Heft der Militärgeschichte.
Das Militärgeschichtliche Forschungsamt hat einen Wissenschaftlichen Beirat,
dem ein Professor der Universität Potsdam vorsitzt. Dieser veröffentlichte im
gleichen Heft einen Aufsatz über "Deutsche Kriegsziele im Ersten
Weltkrieg". Inhalt und Tendenz des Aufsatzes entsprachen dem Niveau der
Zeitschrift. Der Aufsatz gipfelt in der Darstellung von Zielen, die in vollem
Sinn des harten Wortes idiotisch und zudem schandbar waren: Die deutschen territorialen
Kriegsziele sollten sich "auf Drängen Ludendorffs
im Osten bis zum Ural erstrecken."[14]
Die Nutzanwendung folgt sofort: Mit dem "Gewaltfrieden von Brest-Litowsk
am 3.März 1918" bereiteten "die Deutschen selbst den Boden für
Versailles", wo dann ein Verständigungsfrieden "keine Chance
mehr" hatte. Schon hierzu ist anzumerken, daß das Aufrechnen zu Recht
verpönt ist. Doch das gilt anscheinend nicht, wenn das Aufrechnen, hier von
Brest-Litowsk gegen Versailles, die Deutschen belastet. Dabei kann unberücksichtigt
bleiben, ob Brest-Litowsk in diesem Aufsatz korrekt oder politisch korrekt
beurteilt wurde.[15]
Der Verfasser dieses
Aufsatzes hat sich mit Ludendorff
intensiv beschäftigt und dessen territoriale Kriegsziele wahrlich kritisiert.[16]
Aber von Annexionen "bis zum Ural" hatte er nie etwas gefunden. Also
bat er den Verfasser des Aufsatzes um Mitteilung der Quelle für die
Annexionsgelüste "bis zum Ural". Die Bitte wäre leicht zu erfüllen
gewesen – wenn es die Quelle gäbe. Doch die Bitte blieb unbeantwortet. Da bleibt
wiederum nur der Schluß, daß in einem Aufsatz sogar des Vorsitzenden des
Wissenschaftlichen Beirats des MGFA die Darstellung der deutschen Geschichte
eine neue Qualität erreicht: Man stellt deutsche Idiotien und Schandtaten auf
fragwürdigster Basis dar, als reichten die tatsächlichen nicht aus.
Bleibt die Frage nach dem
Ursprung der Fragwürdigkeiten. Fahrlässigkeit wäre anzunehmen, wenn die Autoren
sich auf fragwürdige, nur unzureichend geprüfte Quellen gestützt hätten. Aber
das ist wohl auszuschließen. Es gibt keinen halbwegs glaubwürdigen
Darstellungen, auf die sich die Autoren der beiden Artikel irrtümlich stützen
konnten. Mithin bleibt nur, daß die Autoren deutsche Schandtaten schöpferisch
erfunden haben und dabei wußten, daß der Amtschef des MGFA sie notfalls decken
würde. Also: ein Qualitätssprung.
Zur Bewertung
Natürlich sind die beiden
genannten Aufsätze bei isolierter Betrachtung unwichtig. Sie sind so unwichtig
wie die Bewegung des Zeigers in einem Instrument, die oft Wichtiges anzeigt. Das
MGFA ist das größte deutsche Geschichtsforschungsinstitut; neuartige Tendenzen
dort können also Wichtiges anzeigen.
Der Einfluß des MGFA läßt
sich, neben seiner Größe, auch aus der Verbreitung seiner Veröffentlichungen
abschätzen: Die Zeitschrift Militärgeschichte
wird anderen Zeitschriften beigelegt und wird bis zur Ebene Kompanie, Schiff
bzw. Staffel verteilt. Sie unterrichtet also unter anderem die gesamte
Bundeswehr. Angesichts dieser Umstände muß der Leser annehmen, daß nicht die
Meinung eines unmaßgeblichen Historikers – "Freiheit der
Wissenschaft" – sondern gesicherte Ergebnisse der Geschichtswissenschaft
mitgeteilt werden, die nicht angezweifelt werden können.
Noch
wichtiger ist, daß derartige Aufsätze weithin sichtbare Signale setzen. Die Historiker
des MGFA sowie die Militärgeschichtslehrer an den Universitäten sowie
Offizierschulen der Bundeswehr können deutlich erkennen, was sie zu lehren und
welche Auffassungen sie zu vertreten haben, um vorwärts zu kommen. Diese
indirekte Wirkung derartiger Aufsätze dürfte nicht gering sein und dürfte sich
noch bei den Offizieren der kommenden Generation auswirken.
Eine
weitere Wirkung könnte sich auf Dauer als die negativste erweisen. Noch einmal
sei an die weit verbreitete Begeisterung über die Wehrmachtausstellungen
erinnert. Nur wenige traten einer Ausstellung entgegen, die sich schließlich
nach heftigem Zögern das Urteil selbst sprechen mußte. Derartiges hat Folgen.
"Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit
spricht." Wer Schandtaten erfindet, kann sich nicht wundern, wenn das
hieraus erwachsende Mißtrauen auch seine zutreffenden Darstellungen deutscher
Schandtaten trifft.
Zum Schluß eine Arabeske:
Der Chefredakteur der Militärgeschichte,
unter dem die beiden hier dargelegten und ähnliche Aufsätze erschienen, wurde
im Dezember 2004 befördert. Er wurde Amtschef des MGFA. Was darf man nun vom
MGFA erwarten?
Zur Beurteilung dieser Vergangenheitsbewältigung
In diesem Zusammenhang kann
interessieren, wie die deutsche Art der Vergangenheitsbewältigung im Ausland
gesehen wird. Kein Zweifel: Kenntnis auch der dunklen Seiten der deutschen
Geschichte ist notwendig.[17]
Fraglich ist also nur, wie diese Vergangenheitsbewältigung heute betrieben
wird. Schon Goethe hat in den
Zahmen Xenien beklagt: "Daß der Deutsche doch alles zu seinem Äußersten
treibet." Das berechtigt zu der Frage, ob die Deutschen auch die
Vergangenheitsbewältigung "zum Äußersten", also notfalls bis zur
Erfindung neuer Schandtaten treiben. Allerdings wird die deutsche Vergangenheitsbewältigung
im Ausland oft positiv beurteilt. Diese Zeugnisse werden gern zitiert. Aber es
gibt auch andere Stimmen, die freilich selten zitiert werden. Ein Beispiel:
The Russian War Novel of the
1990s
A question of national
identity
Unter dem Titel "Die
russischen Kriegsromane der 1990er Jahre – Eine Frage der nationalen
Identität" untersucht Prof. Frank
Ellis von der Universität Leeds in der Salisbury Review,[18]
also in einem Blatt des Deutschland und den Deutschen meist abgeneigten
britischen konservativen Establishments, die neue russische Kriegsliteratur.
Nicht umsonst ist die Zeitschrift nach Robert
Cecil, 3. Marquess of Salisbury benannt, der von den späteren Bismarck-Jahren bis ins 20. Jahrhundert
hinein die englische Außenpolitik als Außenminister oder Ministerpräsident
bestimmte. Ein Amerikaner, Robert Langer,
schreibt ihm eine "strong antipathy towards the German people as a
whole", eine starke Abneigung gegen das gesamte deutsche Volk zu.[19]
Dieser Hintergrund läßt
erwarten, daß die deutsche Vergangenheitsbewältigung und das, was die heutige
deutsche politische Klasse gern als "neue deutsche Bescheidenheit"
rühmt, auch in der Salisbury Review positiv beurteilt wird. Doch die
Erwartung täuscht.
Prof. Ellis verweist einleitend darauf, daß
viele Völker Schwierigkeiten mit dunklen Seiten ihrer Geschichte haben
(allerdings nicht die Briten, denn die fochten im 2. Weltkrieg einen "good
war"):
"Gaullist Propaganda based on the myths of self-liberation and
universal resistance to German occupation tried to turn the French into one of
the victors, ignoring Vichy (...) In Germany, the noble and determined effort
made by politicians on both the left and right to face up to the Nazi past have
unfortunately created a psychological terror as nasty as anything imposed by Goebbels. At all levels in the
education System and the national media the Germans are relentlessly
brainwashed (...) That Günther Grass'
recent novel »Im Krebsgang« (2002), which deals with the theme of Germans as
victims, has proved to be a taboo-breaker is testament to the power of the
politically correct orthodoxy that has dominated Germany since 1945. The
willingness of so many Germans to engage in endless self-flagellation and to
think in ways determined by officialdom is as intellectually abnormal as French
bombast about resistance to Nazi occupation and self-liberation."
"Die gaullistische
Propaganda war auf den Mythos gegründet, die Franzosen hätten sich selbst
befreit und allgemein der deutschen Besatzung Widerstand geleistet; so versuchte
sie die Franzosen, Vichy verschweigend, in einen der Sieger zu verwandeln (...)
In Deutschland schufen die edelmütigen und entschlossenen Bemühungen von
Politikern der Rechten und der Linken, die Nazi-Vergangenheit zu bewältigen,
unglücklicherweise einen psychologischen Terror, der ebenso widerlich ist wie
alles, was Goebbels auferlegte.
Auf allen Ebenen des Erziehungssystems und der deutschen Medien wird den
Deutschen unaufhörlich das Gehirn gewaschen (...) Daß Günther Grass' neue Novelle »Im Krebsgang«, die Deutsche als
Opfer schildert, ein Tabu-Brecher wurde, bezeugt die Macht der Deutschland seit
1945 beherrschenden politisch korrekten Orthodoxie. Die Bereitschaft so vieler
Deutscher, sich an endloser Selbstgeißelung zu beteiligen und so zu denken, wie
das Establishment bestimmt, ist geistesgeschichtlich ebenso unnormal wie der
französische Bombast über Widerstand gegen Nazi-Besatzung und
Selbstbefreiung."
Bemerkenswert ist an diesem
Urteil, daß es in einer Zeitschrift und dort in einem Zusammenhang (russische
Kriegsromane) erscheint, wo man es wahrlich nicht erwartet. Das Urteil sei
falsch oder mindestens weit übertrieben? Wer so denkt, wird sich mit einem
Aufsatz im Spiegel vom 18.10.2003
auseinandersetzen müssen, der fragt: "Wie rechts darf ein Lehrer
sein?" Die Aufsätze in der Salisbury
Review und im Spiegel könnten
vielleicht zu dem sonst so beliebten "kritischen Hinterfragen" sogar
bei der heutigen deutschen Vergangenheitsbewältigung und zu einem Urteil über
den Qualitätssprung in den Veröffentlichungen des Militärgeschichtlichen
Forschungsamtes veranlassen.
Bleibt die Frage, was
angesichts der geschilderten Seltsamkeiten zu tun ist. Vielleicht sollten wir
uns an Erich Kästner halten:
Was auch immer geschieht:
Nie dürft Ihr so tief sinken,
von dem Kakao, durch den
man euch zieht,
auch
noch zu trinken.
Das würde erfordern, allen
Veröffentlichungen des MGFA mit ausgeprägter Skepsis entgegenzutreten. Diese
haben sich die Spitzen des Amtes durch Veröffentlichungen zugezogen, für deren
Mängel die hier angeführten Fragwürdigkeiten Beispiel sind.
[1] Grundlagen der marxistischen Philosophie, hrsg. von einem Autorenkollektiv der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, Institut für Philosophie, zit. nach 4. Aufl. dt. Berlin 1961, S. 255 ff.; J. Stalin: über dialektischen und historischen Materialismus, zit. nach dt. Moskau 1947 f.; F. Engels: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft ("Anti-Dühring"), zit. nach Ausgabe Berlin 1959, S. 154; K. Marx: Das Kapital, I, Berlin 1960, S. 323; Wissenschaftliche Weltanschauung, 7 Bände, (Ost)Berlin 1959 ff., Teil I: Dialektischer Materialismus, Bd. 3: G. Klaus: Das Verhältnis von Quantität und Qualität, S. 32 ff.
[2] Programm der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, zit. nach Ostprobleme Nr. 20 und Nr. 25 (1961) , S.6 11,612; Wissenschaftliche Weltanschauung, Teil II: Historischer Materialismus, Bd. 4, (Ost)Berlin 1960: W. Eichhorn: Klassen, Klassenkampf, Staat und Revolution, S. 37 ff., 52 ff.; Ulrich Werner: Der sowjetische Marxismus, 2.Aufl. 1964, S. 51 ff.
[3] Militärgeschichte, hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr 1/2004, S.10 ff.
[4] a.a.O., S. 13.
[5] Vorwärts – Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei, 19.9.1927.
[6] Faksimile-Abdruck des Schreibens vom 3.10.1932 bei S. Poliakov: Hitler und seine Diener, Berlin 1961.
[7] Vossische Zeitung, 20.9.1927.
[8] Vorwärts, 19.9.1927, Vossische Zeitung, 20.9.1927.
[9] Arthur Rosenberg: Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik, 2 Bde., Frankfurt 1955, passim.
[10] Gemeint waren vermutlich Freireligiöse, Baptisten, Methodisten, Altkatholiken, Pietisten, Zeugen Jehovas usw. Zur Beurteilung der Parallelisierung der jüdischen mit anderen, kleineren Glaubensgemeinschatten durch den Festausschuß: 1927 gab es in Deutschland etwa ein Prozent Juden. Dabei ist ungewiß, nach welchen Kriterien gezählt wurde. Falls die Zählung nach der Herkunft, nicht aber nach der Religionszugehörigkeit erfolgte, dürfte die Zahl derjenigen jüdischen Tannenbergkämpfer, für die Dr.Lewin sprachen sollte, wegen der getauften Juden, der Freidenker usw. noch erheblich unter einem Prozent gelegen haben.
[11] Abdruck in Der Schild – Zeitschrift des Reichsverbandes jüdischer Frontsoldaten, 26.9.1927.
[12] Stellungnahme der Redaktion von Der Schild (“kleinlicher Geist”) ebenda.
[13] Der Schild, 19.9.1927.
[14] M. Görtemaker: Deutsche Kriegsziele im Ersten Weltkrieg, a.a.O., S.24 ff.
[15] Zum Vergleich von Brest-Litowsk und Versailles s. das Vorwort “Zur Bedeutung von Versailles” von F. Uhle-Wettler zu Arndt-Verlag (Hrsg.): Das Versailler Diktat, Kiel 1999, sowie F. Uhle-Wettler: Der Krieg – Gestern, heute – und wie morgen”, Hamburg 2001, S. 91 ff.
[16] F.Uhle-Wettler: Erich Ludendorff in seiner Zeit, 2. Aufl. Berg 1996; zu Ludendorffs territorialen Kriegszielen dort S. 295 f., 301 ff., 306 ff.
[17] Verf. hat in seinen Buchveröffentlichungen unter anderem verwiesen auf den Kommissarbefehl, den Barbarossabefehl, das Massensterben der sowjetischen Kriegsgefangenen, den Genozid an den Juden, Himmlers Posener Rede usw.; s.u.a. F. Uhle-Wettler, Der Krieg (wie Fußnote 15) S. 98 ff., 108 ff.; sowie Höhepunkte und Wendepunkte der deutschen Militärgeschichte, Hamburg 2000, S. 52 f., 60 f. Allerdings hat er auch von Politikern oder Truppen der Westlichen Wertegemeinschaft begangene Untaten nicht verschwiegen.
[18] Salisbury Review, Vol. 22, Nr. 1, Autumn 2003.
[19] R. Langer: The diplomacy of Imperialism 1890-1902, 2 Bände, New York 1935, S. 791, 793.